Zeitzeugen-Besuch: Auschwitz-Überlebende berichten am EMG

„Gott, wo hast du uns hingebracht?“

Zdzislawa Wlodarczyk berichtet den Schülern aus der EF von ihrem erschütternden Schicksal in Ausschwitz-Birkenau

Zdzislawa Wlodarczyk berichtet den Schülern aus der EF von ihrem erschütternden Schicksal in Ausschwitz-Birkenau

08.06.2015 - Als Zdzislawa Wlodarczyk, geboren 1933 in Warschau, den Raum betritt, kann man kaum glauben, was sie in ihrem Leben schon alles durchgemacht hat. Die heute 81-Jährige sieht jünger aus als sie ist. Sie ist schick gekleidet, geht aufrecht und hat ein freundliches Lächeln. Erst als sie zu sprechen beginnt, merkt man, dass die Erlebnisse aus ihrer Kindheit doch ihre Spuren hinterlassen haben.

Wlodarczyk gehört zu einer Gruppe polnischer KZ-Überlebender, die über das Maximilian-Kolbe-Hilfswerk einmal im Jahr den Weg an unsere Schule in Deutschland antreten, um der zehnten Stufe von ihren Erfahrungen während des zweiten Weltkriegs und vor allem natürlich von ihrem Aufenthalt im Konzentrationslager zu berichten.

So auch heute, am 21.5.2015. Zusammen mit einer Übersetzerin sitzt Wlodarczyk vor unserem Kurs und erzählt. Manchmal gerät sie in einen Redefluss, dann gestikuliert sie wild und spricht so schnell, dass die Dolmetscherin kaum hinterherkommt, das Gesagte in Deutsch zu wiederholen. Aber Wlodarczyk verliert nicht den roten Faden: Ihr Vortrag ist strukturiert und durchdacht. Sie erzählt anschaulich und interessant, ihr zu folgen ist leicht.

Ihre bewegende Geschichte fängt an mit der Besetzung Warschaus durch die Nazis. Die Situation ist für das damals sehr junge Mädchen beängstigend: Immer wieder fallen Bomben, am Straßenrand liegen aufgeschlitzte Pferdekadaver und enthauptete Menschen. Den Bürgern fehlt es an allem, Ämter sind geschlossen, die Infrastruktur zerstört. Sogar den Schulbesuch verbieten die neuen Machthaber den polnischen Kindern. Heimlich wird in Kellerlöchern weiter unterrichtet. Deutsche Soldaten töten nach Lust und Laune bei jeder sich bietenden Gelegenheit, und 1940 wird das KZ Auschwitz errichtet, in das mit der Zeit immer mehr Leute verschleppt werden, die es wagen, sich dem Regime zu widersetzen. Auch Wlodarczyks Onkel ist darunter.

Die Situation spitzt sich zu. Das Leben der polnischen Bevölkerung wird immer mehr eingeschränkt, bis es im August 1944 schließlich zum Warschauer Aufstand kommt. Junge Leute organisieren sich in der sogenannten „Heimatarmee“, um die Besatzer loszuwerden. Doch die Nazis sind überlegen. Ein Viertel nach dem anderen fällt; als eines der ersten auch das, in dem die kleine Zdzislawa mit ihrer Familie lebt. Die Soldaten gehen brutal vor: Alle Bewohner werden aus ihren Häusern gezerrt. Man wirft Granaten in die oberen Stockwerke, um die Leute aus ihren Verstecken zu drängen. Wer sich nicht schnell genug bewegt, wird gnadenlos erschossen.

Wlodarczyk wird gemeinsam mit ihren Eltern und dem siebenjährigen Bruder sowie allen Nachbarn auf einen Platz gebracht. Niemand weiß, was jetzt passieren wird. Die Familie verbringt die Nacht in Ungewissheit und Angst. Wlodarczyks Mutter versteckt ihre Tochter unter einer eilig aus der Wohnung mitgenommenen Decke vor den Nazis, die Mädchen und junge Frauen einsammeln, um sie zu vergewaltigen. So bleibt der Elfjährigen zumindest dieses Schicksal erspart.

Am nächsten Morgen werden sie in einen Zug getrieben. Die Wagen sind nicht mehr als Viehwaggons, viel zu eng für all die Menschen. Zwei bis drei Tage – genau weiß Wlodarczyk es nicht – reisen sie so, ohne Essen, als Toilette nur ein Loch im Boden. Und keiner kann sagen, wie lange das noch so gehen wird. Man versucht sich gegenseitig aufzumuntern, betet zusammen.

Dann irgendwann die schreckliche Gewissheit: Sie sehen das Tor mit der Aufschrift „Auschwitz“ auftauchen. Zdzislawa Wlodarczyk erinnert sich noch, wie ihr Vater bei diesem Anblick die Hände über dem Kopf zusammenschlug und laut ausrief: „Gott, wo hast du uns hingebracht?“
Im KZ angekommen, werden Männer, Frauen und Kinder getrennt. Später am Abend läuft Wlodarczyk der Vater noch einmal über den Weg. „Das war das letzte Mal, das ich ihn gesehen habe“, sagt sie.

Doch erst am darauffolgenden Tag beginnt die eigentliche Tortur. Die Gefangenen müssen alles abgeben, was sie bei sich tragen, einschließlich der Kleider an ihrem Leib. Nackt stehen sie da, bekommen die Haare abrasiert und beliebig alte Kleidungsstücke zugeteilt, bis alle gleich aussehen. Statt eines Namens trägt jeder nun nur noch eine Nummer. Es ist nicht nur der Verlust der Freiheit, sondern gleichzeitig auch der der eigenen Identität.

Für Wlodarczyk und die übrigen Kinder beginnt ein neuer, grausamer Alltag. Fortgerissen von ihren Müttern werden die Mädchen und Jungen in einem abgesonderten Gebäude – dem „Kinderblock“ – untergebracht, wo sie zu mehreren auf schmalen, mit Heu ausgelegten Pritschen schlafen. Jeden Tag gibt es dasselbe Essen, gerade genug, um nicht zu verhungern.

Das Schlimmste jedoch sind die sogenannten Apelle. Jeden Morgen müssen sich alle Kinder draußen einfinden, um durchgezählt zu werden. Ob krank oder nicht krank, spielt keine Rolle: Alle müssen in der Kälte stehen, oft stundenlang. Auf die Toilette darf man nicht gehen, nicht einmal niesen, während nach allen fehlenden Kindern gesucht wird. Meistens sind sie tot. Ihre Leichen werden einfach neben die Wartenden auf den Boden geworfen.

Zu all diesem Horror kommt die ständige Sorge, dass das Leben morgen schon vorbei sein könnte. Immer wieder werden Häftlinge ermordet. Sehr gut erinnert Wlodarczyk sich noch an ein Mädchen im bananengelben Mantel, das eines Tages mit seiner Familie auftauchte und kurz darauf den letzten Gang in die Gaskammer antreten musste. Nur eines von zahlreichen ähnlichen Schicksalen, die sie hautnah miterleben musste. „Der Tod ist so alltäglich geworden, dass man irgendwann nicht mal mehr geweint hat, wenn jemand starb“, sagt sie heute.

Nach Monaten der Haft, im Januar, geschieht plötzlich etwas. Die Kriegsfront rückt immer näher an das Lager Auschwitz/Birkenau heran, in der Ferne hört man die Kämpfe. Die Nazis beschließen, das KZ zu evakuieren, und schicken die Inhaftierten auf unendlich lange Fußmärsche, die wegen der vielen Toten später als „Todesmärsche“ bezeichnet werden.

Auch Zdzislawa Wlodarczyk soll mitgehen, doch als man ihren Bruder, der wegen Verletzungen an den Beinen nicht laufen kann, zusammen mit anderen Kranken einfach zurücklässt, widersetzt sie sich. Ein Soldat schlägt dem tobenden Kind ins Gesicht, und sie bleibt zusammengekauert am Boden liegen, bis die marschierenden Gruppen schließlich verschwunden sind.

Für die Zurückgebliebenen ist von da an jeder Tag ein Kampf um Leben und Tod. Sie haben keine Lebensmittel, sind verzweifelt. Eine Weißrussin versorgt sie mit dem Nötigsten.

Der 27. Januar 1945 ist ein Tag, der Wlodarczyk für immer und ewig in Erinnerung bleiben wird: Die Russen befreien das Lager, versorgen die Hungernden mit Tomatensuppe, nehmen sie mit in die Stadt. Wie durch ein Wunder haben Zdzislawa und ihr Bruder es geschafft. Die Monate der foltergleichen Haft sind überstanden.

Nachdem die Geschwister zunächst in einem Warschauer Waisenhaus untergebracht werden, gelingt es ihnen über das Rote Kreuz schließlich, ihre Großeltern ausfindig zu machen, die sie zu sich nehmen. Irgendwann trifft auch die Mutter bei ihnen ein, die bereits alle Hoffnung für ihre Kinder aufgegeben hatte. Ein glückliches Wiedersehen, das allerdings nicht lange währt: Sie ist von einer Krankheit, die sie sich vermutlich während des Todesmarsches zugezogen hatte, so schwer gezeichnet, dass sie bald darauf stirbt.

Die Großeltern holen später auch die jüngste Schwester zu sich, die schon während der Aufstände im Sommer 1944 im Krankenhaus gelegen hatte und deshalb nicht mit nach Auschwitz abtransportiert worden war.

Für die Kinder beginnt trotz des Verlustes ihrer Eltern ein neues, friedliches Leben.

„Und wir drei Geschwister leben auch heute noch alle“, sagt Wlodarczyk und klingt dabei nicht nur glücklich, sondern zu Recht auch stolz.

Einen Ratschlag hat sie noch für die zuhörenden Schüler und Schülerinnen: „Begegnet anderen Menschen nie mit Hass und nie auf herablassende Weise, sondern seid offen und lernt die Welt kennen. Wir alle sind gleich, und Gott hat uns aus gutem Grund so erschaffen, wie wir sind. Wenn ihr niemanden ausnutzt, wird auch kein Krieg entstehen.“
Nach diesen berührenden Erzählungen wird es hoffentlich niemandem von uns schwer fallen, diesen Ratschlag zu beherzigen.

Lena Wasser (EF)